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Moderne Forschung und Entwicklung an zukunftsweisender Mobilität finden vielfach im digitalen Raum statt. Mit Hilfe von Modellierungen und Simulationen kann Systemverhalten dargestellt und eingehend unter reproduzierbaren Bedingungen untersucht werden. Das so untersuchbare Spektrum reicht dabei vom Mobilitätsverhalten einer Population (z.B. einer ganzen Stadtbevölkerung) über die isolierte Untersuchung einzelner technischer Systeme (z.B. neue Bauteile und Komponenten) bis hin zu hochkomplexen systemischen Wechselwirkungen (z.B. Untersuchung einer automatisierten Fahrfunktion am fahrdynamisch korrekt modellierten Gesamtfahrzeug in komplexer Verkehrssituation inklusive Wechselwirkungen mit Infrastruktur und anderen Verkehrsteilnehmern). Die Ergebnisse jeder auf Basis von Simulationen durchgeführten Untersuchung sind jedoch maximal so gut wie die zu Grunde gelegten Modelle und Simulationsumgebungen, weshalb diesen eine kritische Bedeutung zukommt. Sind jedoch einmal korrekte und validierte Modelle und Umgebungen vorhanden, stellen diese wertvolle "Digitale Assets" dar, mit denen weitere Forschung und Entwicklung beschleunigt oder auch überhaupt erst ermöglicht werden kann. In den vergangenen Jahren wurden im Rahmen der Profilregion zur Beantwortung von Forschungsfragen immer wieder Modelle und auch Simulationsumgebungen aufgebaut, in denen detailliertes Expertenwissen verschiedener Fachdisziplinen und Einrichtungen gebündelt wurde. So konnten vreschiedene wirk- und beschreibungsmächtige Werkzeuge aufgebaut werden, die seither sowohl intern für die Forschung der Partner des Leistungszetrum Verwendung finden, als auch immer wieder die Ausgangsbasis für Kooperations- und Innovationsprojekte mit Industriepartnern gebildet haben. Nachfolgend möchten wir Ihnen zwei Erfolgsgeschichten zu Aufbau und Nutzung ausgewählter "Digitaler Assets" präsentieren.


Potentialanalyse eines Brennstoffheizgeräts unter Nutzung eines thermischen Simulationsmodells

Im Initialisierungsprojekt „Elektrische und hybridelektrische Mobilität“ wurde während der Pilotphase der Profilregion durch die Forschungspartner gemeinsam ein Simulationsmodell zur präzisen Repräsentation von Antriebsträngen verschiedener Elektrifizierungsgrade erarbeitet. Das breit adaptierbare Simulationsmodell zeichnet sich durch folgende Charakteristika aus:

Die Abbildung gibt einen schematischen Überblick der Bausteine des Simulationsmodells.

Therm Sim Modell
Nach Abschluss des Teilprojekts konnte diese Vorarbeit als ideale Ausgangsbasis für ein gemeinsames Entwicklungsprojekt des Fraunhofer-ICT mit dem baden-württembergischen Automobilzulieferer Eberspächer genutzt werden. Ziel des Projekts ist die Potentialanalyse eines Brennstoffheizgeräts im PKW unter verschiedenen Betriebs- und Umgebungsbedingungen. Das Bild zeigt schematisch die Einbaulage des Brennstoffheizgeräts im Fahrzeug.

Einbauort Standheizung Bildquelle: Firma Eberspächer

Neben der simulativen Untersuchung mit dem thermischen Modell aus der Pilotphase findet im Projekt auch eine experimentelle Untersuchung statt. Auch hierfür zahlt sich die etablierte Vernetzung der Forschungspartner in der Profilregion aus, da für die Untersuchungen die Prüfstandsinfrastruktur des KIT-FAST genutzt werden kann. Sowohl die Prüfstände des KIT-FAST als auch der Produktbereich „Neue Antriebssysteme“ des Fraunhofer ICT, der die Potentialanalyse gemeinsam mit Eberspächer durchführt, sind auf dem auf Mobilitätsforschung fokussierten Campus Ost des KIT beheimatet. Kurze Wege als ideale Basis für gelebte Kooperation.

Erste Ergebnisse aus der gemeinsamen Potentialanalyse des Brennstoffheizgeräts zum Einfluss auf die elektrische Reichweite von Plug-In-Hybriden wurden in einem gemeinsamen ATZ Artikel von Autoren der Firma Eberspächer und des Fraunhofer ICT publiziert. Die Grafik zeigt anschaulich den elektrischen Reichweitenvergleich mit Brennstoffheizgerät (BSGH), mit einem Heizwiderstand (PTC) und einer Wärmepumpe (WP) auf einer Testrunde rund um Karlsruhe bei -5 °C Außentemperatur in einem Hybridfahrzeug. Der Einsatz des BSHG ermöglicht die mit Abstand größte elektrische Reichweite (32,5 km gegenüber 28,7 km bei WP und 21,2 km bei PTC). Auch die Soll-Innenraumtemperatur wird deutlich schneller als mit der WP erreicht (nach 14,8 km gegenüber 38,5 km). Einzig der PTC ist hier mit 8,8 km bis zum Erreichen der Soll-Temperatur noch schneller, jedoch erheblich auf Kosten der elektrischen Reichweite.

Vorteil BSHG klein

Für eine ganzheitliche Bewertung der Effizienz im Hybridsystem ist jedoch auch eine Betrachtung des Kraftstoffverbrauchs erforderlich. Das Wärmepumpensystem hat zwar den niedrigsten Kraftstoffverbrauch, muss jedoch Abstriche bei der elektrischen Reichweite und der verfügbaren Heizleistung bei tiefen Temperaturen machen. Das System mit Brennstoffheizgerät bietet im Vergleich die höchste elektrische Reichweite, wodurch der Kraftstoffverbrauch im betrachteten Zyklus gegenüber einem System mit PTC-Heizgerät deutlich gesenkt werden kann.

BSHG Kraftstoffverbrauch

Im nächsten Schritt erfolgt die Umrüstung eines Demonstratorfahrzeugs für die weitere Erprobung des Systems. Darüber hinaus engagiert sich die Firma Eberspächer aktiv im Industriearbeitskreis des aktuellen Teilprojekts „Effizienzsteigerung hybrider Antriebsstränge durch Optimierung des Thermohaushalts“, um hier ihre breite Expertise rund um das Thema Thermomanagement sowie zu aktuellen Anforderungen aus der Industrie in die strategische Diskussion zur laufenden Forschung einfließen zu lassen.

 

 

 

 


Virtuelles Testfeld zur Untersuchung automatisierter und vernetzter Fahrfunktionen

Im virtuellen Testfeld wird die digitale (Simulationen und Daten) und physische (Prüfstände und Versuchsträger) Erprobungsausstattung der Partner der Profilregion zur Absicherung automatisierter Fahrfunktionen gebündelt und weiterentwickelt. Durch enge Verzahnung mit den Anforderungen aus der laufenden Forschung wird der Funktionsumfang permanent weiter ausgebaut, wobei bereits ein leistungsfähiger Grundstock an Funktionalitäten zur Nutzung durch Wissenschaft und Industrie etabliert wurde.

Mit fortschreitender Digitalisierung, Automatisierung und Vernetzung erhalten Mobilitätssysteme nie dagewesene Fähigkeiten zur Erfüllung von Sicherheits-, Ökologie-, Flexibilitäts- und Komfort-Bedürfnissen. Gleichzeitig steigt die Verantwortung, diesen Bedürfnissen gerecht zu werden – und die Komplexität und das Risiko ihrer technischen Entwicklung, und ihres wirtschaftlichen und sicheren Betriebs.

Die Eignungsbewertung eines neuen Mobilitätssystems muss Sicherheit gegen technisches Versagen, sicherheitskritische Softwarefehler und gezielte Cyberangriffe einbeziehen, aber ebenso dessen gesellschaftliche Akzeptanz, seinen Marktwert und seine Wechselwirkung mit dem realen Verkehrssystem. Hier treffen automatisierte Fahrzeuge auf ein diverses und im stetigen Wandel begriffenes Umfeld aus menschlichen und automatisierten Verkehrsteilnehmern, unterschiedlichen Ausbaustufen an Infrastruktur und neuartigen Verkehrsmitteln wie e-Scootern.

Um die vielfältigen Anforderungen an ein neues Mobilitätssystem in einer so diversen Einsatzumgebung (Operational Design Domain, ODD) systematisch zu prüfen, bedarf es eines interdisziplinären Erprobungs- und Validierungsansatzes, der im Rahmen des Profilregion-Teilprojekts „Virtuelles Testfeld“ erarbeitet wird. Das Projekt führt die Validierungs- und Bewertungskompetenzen der Karlsruher Partner in einem interoperablen Erprobungs-Ökosystem zusammen.

Virt Testfeld1 kleinDie Prüfung von Emissions-Reduktion durch Ampel-Fahrzeug-Kommunikation setzt reproduzierbare Messungen mit den Planungsalgorithmen auf dem Prüfstand voraus, aber ebenso statistisch repräsentative, realistische Fahrszenarien, wie sie auf dem realen „Testfeld Autonomes Fahren Baden-Württemberg“ (rechts) erhoben werden können. Die Verbindungsqualität zwischen Sender und Empfänger wird durch Funkmessungen und Raytracing-Simulationen erprobt. (Bilder: KIT-IPEK, KIT-IfKM, KIT-IHE, Fraunhofer ICT, Fraunhofer IOSB)

Dazu werden zunächst anhand von System und Fragestellung die relevanten Fachgebiete identifiziert:

Systeme zum intelligenten Ladesäulen-Routing müssen sichere Übertragung insbesondere persönlicher Daten ebenso gewährleisten wie hohe Verfügbarkeit und breite Akzeptanz, aber gleichzeitig auch nachweisen, dass sie keine Verkehrsbelastung für urbane Gebiete verursachen, und mit absehbaren Entwicklungen von Fahrzeugflotten und Infrastrukturausbau kompatibel sind.

Automatisierte Notbremsfunktionen dagegen müssen zunächst zum Nachweis ihrer Sicherheit von Algorithmen über Elektrik- und Elektroniksysteme (E/E-Systemen) bis hin zum Hydrauliksystem auf Risiken von Fehlauslösungen geprüft werden. Aber auch eine lediglich zu starke Bremsung kann hier vermeidbare Auffahrunfälle nach sich ziehen. Folglich muss auch die Wechselwirkung mit anderen Verkehrsteilnehmern analysiert werden – über Vehicle-in-the-Loop-Prüfstandsversuche, gekoppelt mit simulativen Sensor- und Verhaltensmodellen, sowie Testfahrten auf abgeschlossenen Geländen. Die Nutzung von Testgeländen sowie von realen Verkehrsdaten wird ermöglicht durch die Verbindung zum realen „Testfeld Autonomes Fahren Baden-Württemberg“, das Versuchsfahrten und Entwicklung im öffentlichen Verkehr erlaubt.

Virt Testfeld2 kleinNahtloses Testen erlaubt die iterative Verbesserung eines neuartigen Notbremssystems von der simulativen Konzepterprobung (links) über Hardware-in-the-Loop-Tests (2. v.l.) bis zur Integration eines einsatzbereiten Prototyps aus Hydraulik, Elektronik und KI-Planungsalgorithmus (3.v.l.) und dessen Erprobung im Versuchsfahrzeug (rechts). (Bilder: KIT-ITIV, KIT-FAST, FZI, Fraunhofer IOSB)

Im „Virtuellen Testfeld“ bündeln die Partner ihre Kompetenzen und Infrastruktur zur Analyse und Erprobung abseits des öffentlichen Verkehrs. Prüfstände werden institutsübergreifend vernetzt, und über vereinheitlichte Schnittstellen und Simulationsumgebungen mit vorhandenen Modellen für Fahrzeugsensorik oder Funkausbreitung ebenso gekoppelt wie mit Modellen für Fahrverhalten, sowie mit Fahrsimulatoren für Probandenstudien. Damit soll in Karlsruhe nahtloses und ganzheitliches virtuelles Erproben möglich werden.

Virt Testfeld3 kleinProbandenstudien im Realverkehr (links) sowie im Fahrsimulator (Mitte) liefern sowohl Hinweise bezüglich Ergonomie und Akzeptanz, wie auch Verhaltensmodelle für Simulation von typischen und in kritischen Situationen (rechts). (Bilder: KIT-ifab, KIT-IfV, Fraunhofer IOSB)

Die Testszenarien dafür liefern Datenbanken von kritischen Fahrsituationen oder von bekannten Cyberrisiken, die im Rahmen des Projekts erstellt werden, und die nach gemeinsamen methodischen Ansätzen etwa nach zulassungsrelevanten Kriterien angefragt werden können.
Um das „Virtuelle Testfeld“ selbst zu erproben, wurden interdisziplinäre Entwicklungsthemen aus anderen Profilregion-Teilprojekten aufgegriffen und analysiert. Zusammen mit dem Teilprojekt iFORESEE wurden neuartige vernetzte Fahrfunktionen mit Software-in-the-Loop-Tests (SIL) etwa auf ihre Wechselwirkung mit dem Verkehrssystem analysiert; die so simulierten Fahrsituationen für Emissionsmessungen auf Prüfständen ebenso genutzt wie für Probandenstudien um Ergonomie und Akzeptanz der Systeme zu erheben; anschließend wurde durch nachgeschaltete Studien die Nutzerbereitschaft und Marktpotential geprüft.

Virt Testfeld4 klein

Ein vernetzter Engstellenassistent wird virtuell auf seine Verkehrfluss-Wirkung erprobt. Die simulativen Szenarien fließen zudem in Probandenstudien und Befragungen zu Akzeptanz und Kaufbereitschaft ein.

Zur Erprobung eines in der Pilotphase der Profilregion entwickelten Systems zur Fahrzeug-zu-Fahrzeug-Kommunikation über hochfrequentes Scheinwerfer-Flackern wurde das Realsystem im Labor analysiert und ein digitaler Zwilling realisiert, der lichttechnische Effekte in einer physikalisch-basierten Simulation von Sender und Empfänger nachbildet. Dieser digitale Zwilling konnte nun in seiner „zukünftigen Einsatzumgebung“ virtuell erprobt werden, das heißt, in einem Verkehr, in dem eine größere Zahl von Fahrzeugen mit entsprechender Technik ausgestattet ist und diese zur Kommunikation nutzt. Dadurch konnte das Risiko von gegenseitigen Störeffekten untersucht werden, und das System in einer großen Anzahl unterschiedlicher Betriebssituationen erprobt werden. Erst das ermöglichte eine effiziente Beurteilung der mit dem System angestrebten Security-Gewinne für vernetztes Fahren.

Virt Testfeld5 kleinDer einzelne reale Prototyp zur Scheinwerfer-Kommunikation im Versuchsfahrzeug (links) wurde im „Virtuellen Testfeld“ analysiert und als „digitaler Zwilling“ nachgebildet, um seine Wechselwirkung im Realverkehr, wie etwa gegenseitige Störeffekte (Mitte), zu analysieren, und angestrebte Security-Vorteile zu bewerten (rechts). (Bilder: KIT-MRT, HsKA-IEEM, Fraunhofer IOSB)

Im Laufe seiner bisherigen Arbeiten hat das „Virtuelle Testfeld“ seinen interdisziplinären und interoperablen Ansatz damit anhand höchst unterschiedlicher Mobilitätssysteme angewendet, von neuen Antennentechnologien über vernetzte Komfortfunktionen bis zu komplexen, sicherheitskritischen Gesamtsystemen aus Mechanik, Elektronik und KI-Algorithmik. Die bei den Partnern vorhandenen und in breiter Zusammenarbeit mit der Industrie eingesetzten Erprobungsplattformen wachsen derweil im Rahmen des Projekts weiter zusammen – mit dem Ziel, eine zentrale Anlaufstelle zu bieten, um für ein gegebenes System die relevanten Fragen zu identifizieren, und diese systematisch, effizient, interdisziplinär, und quantitativ zu beantworten.